Es ist 19:55 Uhr. Noch fünf Minuten bis zum Start. In Garmisch dröhnen die ersten Takte von Highway to Hell aus den Lautsprechern. Ich stehe zwischen rund 250 Mitstreiter*innen an der Startlinie, die Nervosität vibriert in der Luft. Die Herzfrequenz ist erstaunlich ruhig – doch im Kopf tobt das Chaos. 100 Meilen. 164 Kilometer. 8.700 Höhenmeter. In fünf Minuten beginnt ein Lauf, den man nicht einfach nur “läuft”. Man durchlebt ihn.
Ich weiß nicht, was auf mich zukommt. Es ist mein erster 100 Meilen Lauf. Aber neben mir steht Friedrich, ein sehr guter Freund, der durchaus erfahren auf dieser Distanz ist. Wir haben uns gemeinsam zu diesem Lauf angemeldet und beschlossen, zumindest die erste Nacht zusammen durchzustehen. Seine letzte Motivation an mich: Wenn du 100 Meilen laufen willst, dann läufst du erst 100 km... und dann nochmal 100.
Ich bin schon einige 100 km Ultratrails gelaufen und weiß, was dabei auf mich zukommt. Ich habe jedoch nun schon mehrfach gehört, dass das Rennen bei einem 100 Meilen Lauf erst jenseits der 100 km beginnt – wenn die Muskeln brennen, die Müdigkeit immer stärker wird und der Körper einfach nur stehen bleiben will. Dann beginnt der wahre Kampf und der findet im Kopf statt.
Mental bin ich stark, das war schon immer eine meiner Stärken. Aber bin ich stark genug auch 35h durchzuhalten? Ich will es herausfinden! Körperlich bin ich bestens vorbereitet. Auch wenn die Vorbereitung nicht 100% optimal lief, habe ich gerade in den letzten Wochen vor dem ZUT genügend Umfang in den Körper bekommen, um nun mit breiter Brust an der Startlinie zu stehen.
Um Punkt 20 Uhr fällt der Startschuss und unter tosendem Applaus peitschen wir durch die Straßen von Garmisch – viel zu schnell aber die Euphorie meint es heute gut mit mir. Nach dem ersten Kilometer lässt die Stimmung etwas nach und ich finde mein Tempo. Hier und da finden Gespräche mit den Mitläufern statt und man macht noch froh Witze über das, was da noch kommen mag.
Die erste Nacht verläuft besser als erwartet. Friedrich und ich laufen fokussiert von Verpflegungsstation zu Verpflegungsstation. Die Organisation ist überragend – kein Wunsch bleibt offen. Doch gegen 4 Uhr an V4 dann der erste mentale Tiefschlag: Ich stelle meine Stöcke kurz zur Seite, um mir eine Brühe zu holen. 2 Minuten später stelle ich fest: Meine Stöcke sind weg! Wie kann das sein? Wild suche ich umher, doch nirgendwo lassen sie sich finden. Ich frage meine Mitläufer und bekomme die Antwort “Hier hat gerade jemand gefragt, ob die Stöcke irgendwem gehören. Da das von uns keiner beantworten konnte hat er sie einfach mitgenommen”. Ich dachte das war ein schlechter Scherz. Leider war es Realität und so setzten wir unseren Weg fort – ich nun ohne Stöcke.
Glücklicherweise habe ich aufgrund schlechter Erfahrungen (gebrochene Stöcke) immer mindestens ein Ersatzpaar im Dropbag. Also galt es nun “nur” noch knapp 40 km bis zur V3-100 in Biberwier zurückzulegen, bevor ich meine Ersatzstöcke in Empfang nehmen kann.
Da die Dämmerung nun langsam einsetzte konnten wir auch unsere Stirnlampen ausschalten. Bis zur V4 befanden wir uns noch auf dem altbekannten Loop des Ultratrails. Auf dem Weg zur nächsten Verpflegungsstation starteten wir nun jedoch in unseren Extra-Loop. Dabei musste die Niedere Munde auf teils sehr technischen Trails überwunden werden, was uns deutlich mehr Zeit kostete als geplant und ohne Stöcke kostet jeder Meter Kraft.
Die Blasen, die ich mir eine Woche zuvor beim letzten Longrun an beiden Fersen geholt habe, melden sich schon früh. Der Schmerz wird zum ständigen Begleiter. Ich bitte Friedrich, allein weiterzulaufen. Doch er bleibt. Aus Loyalität, aus Freundschaft und auch aufgrund schlechter Erfahrungen mit Dehydrierung beim ZUT vor 3 Jahren. Und so war ich froh, dass ich auch in den kommenden Stunden nicht ganz allein auf den Trails war. Denn aufgrund des doch eher kleinen Teilnehmerfeldes auf einer so langen Distanz hat sich das Feld der Läufer bis zu diesem Zeitpunkt bereits stark entzerrt und man legte sehr viele Kilometer teils ganz allein zurück.
An V3-100 angekommen – der VP mit dem ersten Dropbag befand sich im Konferenzraum eines Hotels und man musste erst die Lobby queren, um dort hinzugelangen – konnte ich nun endlich auch meine Ersatzstöcke aufnehmen. Wir wechselten hier die Kleidung, Schuhe und stärkten uns kurz, bevor wir dann die nächste Passage in Angriff nahmen, bei der wir in der brütenden Mittagshitze den Immensteig überwinden mussten. Helmpflicht inklusive. Wir nutzten jeden Bach und jede Wassertränke um Stirnband, Kappe oder Armlinge zu tränken und so dem Körper eine Oberflächenkühlung zu gewährleisten. Kühlung wird zur Überlebensstrategie.
Doch mein Körper wehrt sich. Durch die Fehlbelastung beim schmerzhaften Laufen entwickelt sich eine Entzündung in der linken Achillessehne. Der Fuß schwillt an, jeder Schritt wird zur Qual. War nun doch der Punkt gekommen, an dem ich aufgeben muss? All die Vorbereitung, um nach 90 km aus dem Rennen auszusteigen? Kann ich mit dieser Verletzung noch 70-80 km weiterlaufen und wenn ja, schaffe ich dann überhaupt die Cut-Off Zeit?
Für mich gab es auf all diese Fragen nur eine Antwort und dafür musste ich nicht lange überlegen: Aufgeben ist keine Option. Nicht für mich, nicht hier und nicht heute. Durchhalten und hoffen, dass es nicht schlimmer wird.
Nach knapp 100 km kamen wir zum zweiten Mal an der V4 Hämmermoosalm vorbei und hier wartete nun erneut meine Liebste mit unserer Tochter auf mich. Eine sehr willkommene Abwechslung, die mir jedes Mal unendlich neue Energie gab. “Für 100 km seht ihr noch top fit aus” sagte sie lächelnd zu uns. Also kann es uns doch gar nicht so schlecht gehen, dachte ich mir und so zogen wir weiter – mittlerweile schon über 3h hinter unserem eigentlichen Zeitplan.
Nach einem wenig hilfreichen Versuch mir von Friedrich mit Hilfe meiner Stöcke die Achillessehne massieren zu lassen entschied ich mich im nächsten Uphill mit Hilfe der elastischen Binde aus meinem Erste-Hilfe-Set eine Art Stützverband für das Sprunggelenk zu binden, um die Achillessehne zu entlasten. Gamechanger! Ziemlich plötzlich wurden die Schmerzen beim Laufen deutlich erträglicher und so konnten wir unser Tempo wieder etwas erhöhen.
Die Zeit bis zum Sonnenuntergang verging nun wie im Flug. Im langen Downhill von knapp 1.000 Hm runter zur V5 mussten wir schließlich zum zweiten Mal in diesem Rennen unsere Stirnlampen einschalten. An der V5 folgte nun auch der obligatorische medizinische Check. Die Frage, ob wir weitermachen wollen, haben wir, ohne zu zögern, mit einem klaren Ja beantwortet. Für viele Mitstreiter ließ sich diese Frage nicht so leicht beantworten und so stiegen viele Teilnehmer an genau dieser Verpflegungsstelle aus.
Ich habe mir hier noch kurz Eisspray vom Doc geben lassen, die Achillessehne gekühlt und schließlich ging es auf der nahezu flachen Passage Richtung V6 Mittenwald, wo uns das Team von WeRun4Fun mitten in der Nacht empfangen hat – ein Ende des Dienstes am VP war hier für unsere lieben Vereinskollegen noch lange nicht in Sicht.
Wir hielten uns nicht lange auf und setzten unseren Weg zügig fort, denn die Zeit schritt immer weiter voran und ein Finish unter 42h geriet immer mehr in Gefahr. Geschlafen hatten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht und Zeit konnten wir dafür aktuell auch nicht mehr aufopfern. Dies machte sich nach nun über 30h Laufzeit auch durch beginnende Halluzinationen bemerkbar. Als ich Friedrich das Foto eines Kängurus zeigen wollte, das ich kurz vorher aufgenommen hatte, war auf dem Foto nur ein Laubhaufen sichtbar. Zu diesem Zeitpunkt wurde mir immer klarer: jetzt entscheidet der Kopf über Finish oder DNF.
Die kommende Dropbag-Station an der V7 Schloss Elmau haben wir fast liegen lassen und uns lediglich kurz verpflegt. Schuhe wechseln war hier aufgrund der Schwellungen ohnehin nicht mehr möglich und sehen wollte ich das Übel unter den Socken beim besten Willen nicht.
Auf dem Weg zur V8 wurde es nun endlich wieder hell und die aufgehende Sonne verlieh uns die bitter nötige Energie, um den erheblichen Schlafmangel etwas ausgleichen zu können.
Viel zu weit hinter unserem Zeitplan erreichten wir die mittlerweile allseits bekannte Cheering Zone der Nomads: Zegapa. Benannt nach der traditionsreichen Stimmungshochburg bei einem der bekanntesten Rennen im spanischen Baskenland – Zegama – war Zegapa mittlerweile der Inbegriff für Party beim ZUT. Und wir wurden nicht enttäuscht! Die bereits kilometerweit ertönenden Anfeuerungsrufe der Nomads, einer lokalen Laufcommunity, peitschten uns förmlich den Uphill zum Kreuzeck hoch und so wurden wir mit tosendem Applaus, Glocken und Megafonen bereits erwartet.
Abgekühlt mit nassen Schwämmen und schmerzbefreit durch den enormen Adrenalinschub war der Weg zur V9 Hochalm dann kinderleicht.
Von dort aus hatten wir nur noch ca. 350 positive Höhenmeter vor uns, bevor das Ziel in Garmisch hinter einem langen Downhill bereits auf uns wartete. Pause war hier aufgrund der Zeit jedoch kaum noch drin. Aber auch diese verbleibenden Höhenmeter stellten sich deutlich einfacher dar als gedacht, denn nun wartete mal wieder das bombastische Stimmungsteam von WeRun4Fun rund um Dani und Sabine auf uns, die uns alle gemeinsam die letzten Höhenmeter förmlich nach oben trugen.
Wir trafen die Truppe nun schon gefühlt zum 10. Mal, denn seit dem Start des Rennens klapperten die Jungs und Mädels sämtliche Stellen der Strecke ab, um uns immer und immer wieder zu motivieren und das Rennen zu einer Party zu machen! Unglaublich, aber wahr. Aber was Anderes war ich ehrlich gesagt von diesem verrückten Haufen auch nicht gewohnt.
Endlich oben angekommen hieß es nun Downhill. Etwas technisch, teils steil. Downhill. Schmerzen. Downhill. Meine Füße und Achillessehne konnten und wollten eigentlich auch nicht mehr, aber nach nun 40h wusste ich: ein Ende ist in Sicht und es ist so greifbar nah wie noch nie zuvor. Durchbeißen und Gas geben.
An der V10 hatte ich schon gar nicht mehr angehalten und lief einfach durch, um das Ziel noch irgendwie unter 42 Stunden erreichen zu können. Auch wenn es noch so unmöglich erschien, wurde mein Körper auf den letzten Kilometern mit einem Energieschub erfüllt, der uns die drei allerletzten, flachen Kilometer förmlich fliegen ließ. “Last KM” stand plötzlich auf dem Schild und ich konnte meinen Augen kaum trauen. Ab dann lief alles wie in einem Film vor meinen Augen ab. Schmerzen? Nicht vorhanden. Zumindest temporär nicht spürbar.
Und dann kam die letzte Kurve und nach 41 Stunden und 31 Minuten,
168 km und 8700 Höhenmetern überquerten wir überglücklich das Ziel in Garmisch unter tosendem Applaus.
Was zwischenzeitlich als unerreichbar erschien wurde nun endlich Wirklichkeit. Und ich habe mich bereits im Vorfeld gefragt, ob mich dieses Ereignis zu einem anderen Läufer macht, ob ich in eine “andere Liga” aufsteige oder gar die ganz langen Kanten zukünftig meiden werde? Nichts davon ist eingetreten. Aber für mich hat sich ganz klar bestätigt: Der Körper kann viel. Der Kopf kann mehr. Und wenn beide zusammenhalten, ist fast alles möglich.
Und auch, dass man bei einem 100 Meilen Rennen nach den ersten 100 km noch mindestens 150 mehr laufen muss – zumindest fühlt es sich so an.