Halb-Traum 2019
57 Kilometer und 1700 Höhenmeter – all meine Nicht-Läufer-Freunde und Verwandten zeigten mir einen Vogel, als ich von meinem Vorhaben, den Halb-Traum zu laufen, erzählte. Mein erster Ultra. Ich freute mich schon seit Wochen „trauf“. Mein Trainingszustand war zwar nicht ideal, aber ich war total motiviert und optimistisch.
Am Samstagmorgen düste ich also bei bestem Frühlingswetter von Merklingen, wo ich bei meinen Eltern übernachtet hatte, nach Geislingen und war pünktlich um 7.30 Uhr an der Startnummernausgabe. Parkplätze waren ausreichend vorhanden und alle Helfer waren super „trauf“. Ich holte meinen „Leckerli-Beutel“, er mit zahlreichen Broschüren, Gutscheinen und Pröbchen bestückt war und machte mich fertig – ähm, bereit natürlich. Fertig würde ich noch früh genug sein. Das Racebriefing verwirrte ich ein wenig – scheinbar musste man im Verlauf der Strecke auf unterschiedliche Markierungen achten. Ich versuchte mir alles zu merken. Noch mehr Nervosität kam auf, als ich ein paar Bekannte traf und alle durcheinander redeten. Die hatten bestimmt mehr trainiert als ich. „Du bist doch total bescheuert“, sagte mein „Vernunft-Ich“. Mein „Läufer-Ich“ mahnte es energisch zur Ruhe. Keine Zeit für Hadereien – der Startschuss fiel pünktlich um 9 Uhr vor der Jahnhalle.
Ich startete wie eine Rakete, das Adrenalin hatte mich mal wieder voll im Griff. Den ersten Kilometer, bis zur Überquerung der B10 liefen wir aber „Kolonne“- das war ganz gut. Trotzdem versuchte ich, nach vorn zu kommen. Schließlich wollte ich später beim Downhill niemandem in die Hacken laufen und die freie Sicht ins Tal genießen. Es lief fantastisch. Ich war frisch, flott und hatte jede Menge Spaß – die Aussicht war mitunter phänomenal. Mitten im Wald vernahm ich plötzlich Blasmusik – da konnte die erste Versorgungsstation, Ave Maria Deggingen bei Kilometer 15, nicht mehr weit sein. Und tatsächlich: nach einigen Biegungen im Wald stand ich bei der Kapelle und wurde an der Versorgung herzlich empfangen. Die Helfer füllten meine Wasserflaschen auf, ich biss herzhaft in ein Stück Wassermelone und fühlte mich wie die Königin der Welt, als ich auch noch hörte, dass ich mich momentan auf Rang 2 der Damen befand. Also, nix wie weiter. Ich flog in weiten Sätzen den Berg hinunter – und bog promt irgendwo falsch ab. Fünf Minuten später hatte ich keine Ahnung mehr, wo es lang ging. Ich irrte durch Deggingen, auf der Suche nach den „Löwenpfad“ Schildern – und zückte schließlich meinen ausgedruckte Steckenplan. „Ich bin sowas von Old School“, dachte ich und fragte mich, warum zur Hölle ich mir nicht endlich so eine Uhr kaufen wollte. „Zu teuer“ flüsterte der Schwabe in mir.
Ich beschloss, auf irgendeinem Weg in Richtung Reichenbach zu laufen – das war laut Plan der nächste Ort. Also navigierte ich mich anhand der Wanderschilder in diese Richtung. Unterwegs versicherte mich noch bei einem freundlichen Radler, der gewählte Weg nach Reichenbach führte. Ich lief also auf einem geteerten Radweg – zuerst hoch, dann wieder runter – und stand wieder in einer Ortschaft. Dort sah ich auch ein paar „Löwen“ – aber scheinbar die falschen. Ich war kurz vor dem Verzweifeln. Andere Halb-Träumer hatte ich schon seit der letzten Versorgung nicht mehr gesehen. Da fuhr plötzlich ein Auto neben mich heran. Der Fahrer rief mir zu: „Du bist nicht mehr auf der Strecke!“. Ach was? Tatsächlich schwante mir das schon. Er war supernett und half mir, zurück auf die Strecke zu finden. Zum Glück gibt es Navis. Leider hatte ich dadurch viel Zeit verloren und war laut meiner Uhr, die leider keine GPS Tracks speichern kann, etwa 5 km Umweg gelaufen. Nun ja – ich war immerhin wieder „trauf“- und motiviert, etwas Zeit aufzuholen. Es tat gut, andere Läufer zu sehen. Ich quatschte hier und da, futterte ein paar Gummibärchen und fühlte mich gleich besser. Bergauf konnte ich sogar einige Läufer überholen. Etwa bei Kilometer 28 (für mich also 33) wurde es dann aber zäh. Es ging steil bergauf, zunächst auf einem Wiesenweg, dann im Wald. Mir war heiß, ich hatte kein Wasser mehr und fühlte mich auf einmal schlapp.
Knapp hinter mir lief Iris, die mich später noch ein langes Stück begleitete. In diesem Moment wollte ich mich aber nicht überholen lassen. Ich biss die Zähne zusammen und schleppte mich den Berg hinauf. Oben im Wald kam dann die Kehre, wo mir die schnelleren Läufer schon entgegenkamen. Stefano klatschte mich ab – er wunderte sich sicher, wo ich plötzlich herkam – schließlich war ich zu Anfang noch vor ihm gelaufen. Dann kam endlich die ersehnte Oase: die nächste Versorgung Kuchberg. Ich exte ein alkoholfreies Radler, trank dann noch zwei Becher Wasser und ein bisschen Cola. Nebenbei schob ich mir ein paar Apfel- und Melonenschnitze rein. Hauptsache, etwas Frisches. Gleich fühlte ich mich besser. Ich setzte mich noch kurz auf einen der Liegestühle und ließ meinen Puls kurz zur Ruhe kommen. Dann ging es weiter – zum Glück erst mal bergab. Ich holte Iris wieder ein, die mich während meiner Pause in der Versorgung überholt hatte. Wir kamen ins Gespräch und das tat mir gut. Bis zur nächsten Versorgung liefen wir fast immer zusammen. Es ging erstaunlich gut, die Anstiege ging ich meistens, bergab und falls es mal eben war, lief ich ein ruhiges Tempo und spürte keine Schmerzen. Als wir einen traumhaften Weg zwischen Viehweiden und Waldrand entlangtrabten, fing es an zu donnern. „Mist, hoffentlich zieht das vorbei“, sagte ich zu Iris. Regen wäre ja ok, aber wenn ein Blitz einschlägt und uns womöglich trifft? Unwillkürlich liefen wir schneller. Es fing an zu regnen. Das war schön erfrischend, aber der Donner wurde lauter und die Trails am Waldrand entlang immer rutschiger.
Ich ließ Iris vorbeilaufen – sie hat eindeutig mehr Erfahrung und ich wollte keinen Sturz riskieren. Meine Beine fühlten sich zunehmend schwerer an. Bei einem Aussichtspunkt traf ich auf eine lustige Männergruppe. Ein Freund von ihnen hatte wohl eine private Versorgungsstelle aufgebaut: Unter einem Schirm standen die Männer zusammen, lachten und tranken etwas. Ich stellte mich kurz dazu und atmete durch. Da hatte ich auch schon die nächste Laufbegleitung gefunden: Die nächsten paar Kilometer heftete ich mich an die Truppe und redete ein wenig mit ihnen. Wir holten Iris wieder ein und liefen durch Geislingen zum Stadion, wo die dritte und letzte Versorgung vor dem Ziel auf uns wartete. Und zu meiner großen Überraschung standen dort meine Eltern! Sie erkundigten sich, wie es mir ging und ob ich etwas brauchte. Ich war total gerührt – das war so lieb von ihnen. Obwohl sie meine Lauferei „total gesponnen“ finden, waren sie mächtig stolz auf mich, das konnte ich spüren. Ich war leider nicht im Stande, etwas Sinnvolles zu sagen. Stattdessen kippte ich mir Wasser ins Gesicht und in den Mund und aß ein paar Gummibärchen – das hilft schließlich immer. Die Versorgungsstation war, wie die anderen, der absolute Hammer- es gab von allem und die Helfer waren total lieb. Nachdem ich mich von meinen Eltern mit dem Versprechen, später nochmals in Merklingen vorbeizuschauen, verabschiedet hatte, ging es weiter. Noch neun Kilometer. Das waren eindeutig die längsten dieses Laufes. Ich fühlte mich nun doch ziemlich gerädert. Das wunderschöne Tal durchquerte ich gehend – die Treppen hätte ich beim besten Willen nicht laufen können. Oben traf ich einen sehr netten Herrn, mit dem ich fortan gemeinsam lief – bis kurz vor dem Ziel. Wir unterhielten uns und trafen unterwegs nochmal den netten Mann, der meine Irrwege beendet hatte. Er unterstützte seine Frau und fuhr gefühlt überall mit seinem Auto herum, sammelte verirrte Schäfchen ein und feuerte uns an. Kurz vor dem Ziel ging es durch Burg Helfenstein hindurch. Meine Knie hatten keine Lust mehr, bergab zu gehen, also genoss ich nochmals die schöne Aussicht und watschelte gemütlich Treppen und Teerstraßen hinunter. Mein Begleiter war noch frischer – er hatte außerdem deutlich mehr Ultra-Erfahrung als ich – und eilte vor mir Richtung Ziel.
Der letzte Kilometer war pure Genugtuung – komme, was da wolle, ich werde finishen, dachte ich mir. Und promt bog ich kurz vor der Ziellinie nochmals falsch ab: welch Ironie. Ich lief also von der falschen Seite ins Ziel, drehte eine Ehrenrunde und strahlte übers ganze Gesicht, also ich meine Urkunde und die selbstgebastelte Holzmedaille in Empfang nahm. Ich hatte es geschafft, auf meine ganz eigene Art und Weise. Und zwar in 7 Stunden und 17 Minuten. Die Helfer im Ziel waren durch meine Aktion erheitert und freuten sich mit mir. Es herrschte wirklich eine tolle Atmosphäre und ich hatte trotz Irrungen und Wirrungen einen wunderschönen Tag mit ganz besonders (verrückten) Menschen. Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch an alle Halb- und Albträumer.